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Das Gesicht einer Erinnerung

Ich hasse diese Puppe. Aus der Ecke des Raumes starrt sie mich an, mit ihren leeren und doch durchdringenden Blick aus glasigen Puppenaugen. Ihre einst so weiße Porzellanhaut ist vergilbt und leicht staubig. Das damals so helle, blaue Kleid an ihren Körper ist verblichen und an manchen Stellen eingerissen. Die wilden, lockigen Haare sind nur noch ein Gewirr aus Fitzen und Knoten. Ihr linkes Augenlid mit den schwungvollen Wimpern hängt weiter herab als ihr rechtes. So sitzt sie dort, triumphierend, lachend, unterdrückend. Sie verhöhnt mich, verachtet mich und ihr Blick bereitet mir Kopfschmerzen. Ich kann meine Augen nicht von ihr nehmen. Sie zieht mich an und stößt mich ab zur selben Zeit. Doch die anziehende Seite ist stärker.
Ich mache einen Schritt auf sie zu. Spricht sie heute ihr endgültiges Urteil über mich oder lässt sie mich weiterhin zappeln? 
Ich mache einen weiteren Schritt auf sie zu. Eine schmerzhafte Erinnerung möchte sich Zugang zu meinem Gehirn verschaffen, doch ich schlage innerlich die Tür zu. Ich will es nicht sehen. Nicht noch einmal. 
Ein letzter Schritt. Ihre Details bringen mich zu schwitzen. Die aufgemalten, rosigen Wangen, die ihr früher einmal Leben ins Gesicht zaubern sollten, wirken nur noch wie eine verzerrte Karikatur, die die tote Wahrheit überdecken sollen. Der aufgemalte, lächelnde Mund hat vor langer Zeit all seine Freundlichkeit verloren und unterstreicht nur noch ihren Hohn und Spott gegenüber der Welt.
An ihrem Rücken hängt eine lange Schnur, am Ende ist ein Ring befestigt. Zieht man sie auf, spricht sie ein Wort. Mama... Mama... schallt die Puppenstimme in meinem Kopf wieder, eine Erinnerung an alte Zeiten. An schöne Zeiten. Heute spricht sie nicht mehr.

Die alte Standuhr schlägt Sechs. Jedes mal, wenn das Pendel auf Anschlag geht, wird mein Mark erschüttert.

Gong. Gong. Gong.

Sein taktgebender Rhythmus intensiviert die Hypnose, aus der ich nicht entfliehen kann.

Gong. Gong. Gong.

Ich spüre wie ich weniger Luft bekomme. Angst und Panik machen sich in meinem Körper breit. Mein Herz fängt an zu rasen, meine Augenlider zucken, doch ich kann den Blick von der Puppe nicht lösen.

Gong. Gong. Gong.

Ich spüre, wie meine Knie weich werden und langsam nachgeben. Mit jeder Sekunde, die meine Knochen erschüttert werden, sinke ich ein wenig mehr zu Boden, versinke ich ein wenig mehr in mir. Ich kann nicht mehr atmen. Etwas schnürt mir langsam die Kehle zu und liegt wie ein gewaltiger Stein auf meiner Brust. Ich kann nicht atmen! Das laute Pochen meines Herzschlags im Ohr macht mich taub.

Der Abgrund nähert sich.

Plötzlich legt sich eine Hand auf meine Schulter. Sie wirkt wie ein Defibrillator und mit einem gewaltigen Schock bin ich zurück.

„Schatz? Geht es dir gut?"

Ich ziehe eine unglaubliche Menge an Luft in meine Lungen, fange an zu husten und beuge mich vor. Die Hand klopft nun vorsichtig auf meinen Rücken.

„Alles ist gut... alles ist gut." Die warme Stimme berührt meine Seele und lässt mich wieder aufleben. Noch atemlos nicke ich mit dem Kopf, dann richte ich mich auf. Ich lasse meine zittrigen Hände durch meine verschwitzen Haare fahren und nicke erneut. „Ja... Ja, es geht mir gut. Es geht mir gut." Das Klopfen wird zu einem zarten Streicheln und verschwindet schließlich ganz von meinem Rücken.

Es geht mir gut.

**

Der Mond lässt mich nicht schlafen. Sein grelles Licht durchbricht die Vorhänge, als wären sie aus dünner Seide. Ich spüre seine kalten Strahlen auf meiner Haut. Ein Frösteln überkommt mich und ich ziehe die Bettdecke näher zu meinem Kopf. Mein ganzer Körper ist müde und kaputt, doch mein Geist hält mich wach mit wirren Gedanken. Ich drehe mich zur Seite und hoffe erneut auf die schützenden Hände, die mir schon so viel Trost und Zuneigung gebracht haben. Doch sie sind mir abgewandt, versteckt hinter einem großen Körper, schlafend, ruhend. Ich sollte sie nicht dauernd um diese Gefallen bitten. Ich drehe meinen Körper erneut und blicke auf den Wecker. 03:42 Uhr.

Meine Augen schließen sich und ich stelle mir vor, wie ich in diesen Armen liege. Ich stelle mir die großen, dennoch zarten Hände vor, wie sie mein Gesicht berühren, und diese liebevollen Daumen, wie sie vorsichtig über meine Wangen streichen. Dazu eine tiefe, ruhige Stimme, die immer wieder sagt: Alles wird gut. Ein Traum greift nach meinen Gedanken und bittet meinen Verstand endlich zur Ruhe.

Wir sind am Strand und mein Blick ist auf das Wasser gerichtet. Die Sonne ist angenehm warm auf der Haut, das Meer trägt sanfte, frische Brisen zu uns herüber. Ein junges Lachen ist zu hören und eine zierliche Hand legt sich um die meine. Mit einem Lächeln senke ich den Blick auf meine Seite... und erblicke das furchtbare Gesicht der weißen Puppe. Ihre stechenden Glasaugen schauen zu mir auf und ihre kleine Puppenhand krallt sich schmerzhaft in meinen Finger.

Mama...! Mama...!

Mit einem Schrei wache ich schweißgebadet aus dem Traum auf. Das Blut rauscht mir in die Ohren und mein Herz schlägt so stark, dass ich es in meinem Brustkorb spüre. Ich sitze senkrecht in meinem Bett, atme schwer und wische mir über die nasse Stirn. Ich fühle mich fiebrig. 
Es war nur ein Traum, nur ein Traum. 
Es geht mir gut, geht mir gut. 

Ich lasse mich zurück in mein Kopfkissen fallen und verschließe erneut die Augen. Mein Herzschlag fängt an sich wieder zu normalisieren. Ich wünsche mir nichts sehnlicher als das Nichts. Es soll meinen Körper greifen und in meinen Verstand eindringen, damit ich endlich ruhen kann.

Mama...

Es hallt durch meinen Kopf.

Mama... Mama...

Es wird lauter, bohrender. Ich schüttele meinen Kopf hin und her um das Wort zu vertreiben. Für einen Moment glaube ich, es abgeschüttelt zu haben.

Mama...

Es ist nicht mehr in meinem Kopf, es ist im Raum. Ich öffne ruckartig die Augen. Das Wort ist im hier. Ich kann es keiner Richtung zuordnen, doch es ist da.

Mama... Mama...

Ich presse die Hände auf die Ohren, doch es mindert die Intensität, mit der das Wort zu mir schallt, nicht. Geh weg... geh einfach weg! Doch es hört nicht auf mich.

Mama...

Es ist beständig und regelmäßig wie das Ticken einer Uhr. Ich drehe mich erneut im Bett umher, verschließe die Augen, presse mein Gesicht in das Kopfkissen, doch alles ist zwecklos und ich gebe auf. Zögerlich schiebe ich die Decke weg und schleiche aus dem Bett. Das Wort ist nicht mehr bei mir im Raum, sondern auf dem Flur. Ich öffne die Tür und trete in den dunklen Gang. Nun kommt es aus der Richtung der Tür, die zum Wohnzimmer führt. Das Zimmer, in dem die verfluchte Puppe sitzt. Meine Hand zittert, als ich nach der Türklinke greife, dennoch drücke ich sie langsam herunter. Panik kommt erneut in mir hoch und ich versuche sie herunter zu schlucken. Alles ist gut.

Der Raum ist eiskalt, aber komplett in Stille getaucht. Gänsehaut legt sich über meinen Körper und ich erzittere leicht. Der Mond scheint durch die dünnen Vorhänge direkt auf das Gesicht der Puppe. Ihre Haut wirkt unmenschlich weiß und doch lebendig. Ich glaube ich sehe ihre kleinen Füße sich vor und zurückbewegen. Die Schnur, die aus ihren Rücken kommt, pendelt hin und her. Sie blinzelt mir zu und auf ihren roten Lippen formt sich ein klangloses Wort.

Nun sag' es... sag es!

Ich kann ihr Flüstern nicht hören und gehe näher heran. Ihre Augen fokussieren mich, ihre Mund bewegt sich, doch ich höre nichts.

Sag' es!

Ein weiterer Schritt vorwärts. Näher. Doch ich höre nichts. Ihr Mund verzieht sich zu einem höhnischen Lächeln. Wut kocht in mir hoch.

„SAG' ES!"

Ich reiße meine Arme nach vorn und greife nach der Puppe. Ich schreie auf und schmeiße sie schließlich mit Wucht auf den Boden. Sie rutscht ein Stück über das glatte Parkett und bleibt im Licht des Mondes liegen. Ich habe sie kaputt gemacht und nun liegt sie dort. Allein.


Regungslos.

Ihre Arme und Beine sind unnatürlich verschränkt und ihr Kleid ist dreckig vom Asphalt. Die dunklen Haare kleben wirr an ihrem vom Spielen verschwitzten Gesicht. Ihre Augen sind leer. Von ihrer Stirn aus, bildet sich langsam eine Blutlache und dunkle Schlieren ziehen sich über den Boden. Alles kommt mir wie in Zeitlupe vor: Wie ich auf sie zu renne und neben ihr zu Boden gehe. Wie ich ihren kleinen Kinderkörper anhebe und fest an mich drücke. Heiße Tränen laufen über meine Wangen und ein stechender Schmerz durchbohrt meine Brust. Ich spüre ihre letzten Bewegungen und wie ihre kleine Hand meinen Körper streift. Ein letztes Wort dringt an mein Ohr, ehe die Lebensgeister ihren Körper verlassen.
 

Mama

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